Detail - Haushaltsreden Stadt Netphen

Haushaltsrede zum Haushalt 2014 der Stadt Netphen

Rat Netphen, Ekkard Büdenbender

Sehr geehrte Anwesende!

Jedesmal, wenn ich die Haushaltssituation unserer Stadt betrachte, denke ich daran, wie Herr Gräbener vor 5 Jahren am Stand von uns Linken vorbei ging und laut rief:“ Wenn die Linken in den Rat einziehen, ist die Stadt pleite“. Ja, sie hatten Recht, Herr Gräbener, als die Linke in den Rat einzog, war Netphen pleite.

Und glauben Sie mir, wenn die Bürger da draußen erfahren, wie pleite die Stadt ist und wie wenig hier ernsthaft dagegen unternommen wird, ziehen hier bald noch mehr Linke ein.

Möchte mir hier wirklich irgend jemand erklären, er glaube an einen Haushaltsausgleich im Jahr 2020? Oder vielleicht gar daran, dass wir ab 2021 unsere Schulden zurückzahlen? Und dass wir bis dahin unsere Stadt so weiterentwickelt haben, dass sie den Herausforderungen der Zukunft standhält.

Wir können uns doch nicht benehmen, wie konditionierte pawlowsche Hunde, denen man eine Vorlage hinhält, und die dann nur noch in dem vorgegebenen Rahmen denken und wedeln. Angesichts der allgemeinen Lage der Kommunen bei gleichzeitigem Reichtum im Land, muss man doch die Frage stellen, ob es sich um Dummheit oder um Berechnung der Landes - und Bundespolitiker handelt.

Wir wissen, dass wir pleite sind, obwohl unsere Wirtschaft boomt, sich der DAX auf einem Allzeithoch befindet. Wir wissen, dass mittlerweile nicht nur die Lehrer an den Schulen an Burn-out leiden, sondern sogar bereits die Kinder. Wir wissen, dass wir uns mitten in einem Pflegenotstand befinden, und dass das eigentliche Problem erst noch auf uns zukommt. Wir wissen, dass immer mehr alte Menschen die Übersicht auf unseren kaputten und hektischen Straßen verlieren und wir uns dennoch nicht einmal mehr die Mühe machen, darüber nachzudenken, welche Alternativen wir ihnen schaffen könnten, weil uns eh das Geld fehlt. Wir wissen von der bereits existierenden Armut, trotz Arbeit und der noch kommenden Altersarmut. Wir wissen, dass es in anderen Ländern noch weit schlimmer ist, so dass wir uns auf zunehmende Flüchtlingszahlen einstellen müssen. Wir wissen, dass wir Gefahr laufen, die Wasserversorgung an private Investoren zu verlieren, wenn uns 2019 das Geld endgültig ausgehen sollte. In 30 Jahren werden wir uns dann nicht mehr über mangelnde Internetanbindungen aufregen, sondern über marode Wasserleitungen und Dörfer, die mit Tankwagen versorgt werden.

Wir wissen das alles, in Berlin und Düsseldorf ist dies auch bekannt. Ich wiederhole meine Frage: Dummheit oder Berechnung?

Die Steuer- und Sozialpolitik der letzten Jahrzehnte hat unsere Gesellschaft in Sieger und Verlierer gespalten. Und der Kreis der Verlierer wird von Jahr zu Jahr größer, Netphen gehört dazu. Immer weiter klafft die Schere auseinander. Wobei das Bild der Schere ein sehr trügerisches ist, denn es verleitet viele dazu zu glauben, dass derjenige, der jetzt oben ist, auch morgen noch dort sein wird. Doch wir haben wohl alle die Zahlen in den letzten Wochen gehört: Den 86 Reichsten gehört genauso viel, wie den 3,5 Milliarden ärmsten Menschen. Das Geldvermögen der europäischen Millionäre würde ausreichen, um alle europäischen Staatsschulden zu begleichen. Und dieser Trend verschärft sich Jahr für Jahr

Aber Sie glauben, 2020 wird das schlagartig anders! Aber wie denn, wenn das Steuersystem die Sieger belohnt? Statt den Reichtum zu verteilen, soll mit der Abundanzumlage die Armut verteilt werden. Das große Geld bleibt wo es ist. Und da, wo das Geld ist, ist die Macht. Dummheit oder Berechnung?

Norbert Lammert hat vor kurzem in Siegen ein paar wichtige Zahlen vorgetragen:

Vor 20 Jahren wurden global Waren im Umfang von rund 20 Billionen Dollar gehandelt. Demgegenüber standen Finanztransaktionen von 3 Billionen Dollar. Mittlerweile hat sich der Warenhandel verdreifacht, die Zockereigeschäfte dagegen auf 600 Billionen Dollar verzweihundertfacht. Geld verdient man heute nicht mehr mit Werten, sondern mit Spekulationen. Ob diese Zockereien dabei Hungerepidemien verursachen, in sinnlosen Bauprojekten oder Bürgerkriegen enden, ist ohne Belang. Der Profit zählt. Den Steueranteil der Kommunen an diesen Geschäften, können sie dem Haushaltsplan entnehmen. Attac fordert seit Jahren eine internationale Regelung zur Besteuerung der Finanztransaktionen. Diese würde viele Probleme weltweit lösen. Unsere Politik lehnt dies ab. Dummheit oder Berechnung?

Glauben Sie, dass diejenigen, die heute die Macht in den Händen halten, sie morgen wieder an uns abgeben? Glauben Sie, dass diejenigen, die heute das Geld scheffeln, morgen sagen, „So, jetzt haben wir genug, jetzt sind erst mal wieder die Pflegekräfte und Kommunen an der Reihe?

Aber 2020 wird einfach alles wieder gut? Und solange warten wir einfach ab.

Ich kann nicht nachvollziehen, wie sich die Eliten unseres Landes so sehr vor ihrer Verantwortung drücken können. Ich kann es nicht begreifen, dass Politik und Medien im Ausland ständig neue Säue suchen, die sie durchs Dorf treiben, um dort Missstände anzuprangern, Aufstände und Bürgerkriege begrüßen und anstacheln, aber kaum jemand den Mut aufbringt, die Richtung, in die wir uns hier bewegen laut und deutlich in Frage zu stellen.

Immer mehr Bereiche unserer Gesellschaft werden nur noch durch den Fleiß und die Opferbereitschaft von völlig unterbezahlten Kräften aufrechterhalten. Diese Menschen haben nicht mehr die Zeit und Kraft sich für eine gesellschaftliche Veränderung einzusetzen. Sie erwarten, dass wir dies tun. Dafür haben sie uns gewählt.

„Wer, wenn nicht wir“ lautet der Titel eines Filmes über die RAF. „Wer, wenn nicht wir“, war die zentrale Frage einer sich radikalisierenden Gesinnung, weil die Mehrheit der Bevölkerung und deren Vertreter wieder einmal schwieg, angesichts der deutschen Haltung gegenüber Konzernen, Diktatoren und dem Vietnamkrieg. „Wer, wenn nicht wir“, sollte also die entscheidende Frage sein, die wir uns hier stellen, wenn wir das Feld nicht den Extremisten überlassen wollen. Warum übernehmen wir nicht die Verantwortung, die uns übertragen wurde?

Wir können doch nicht zulassen, dass das öffentliche Interesse an Medaillenspiegeln bei Olympiaden größer ist, als das Interesse am Fortbestand der eigenen Kommune. Wir können doch nicht zulassen, dass die Meinung verbreitet wird, die Kommunen hätten alle über ihre Verhältnisse gelebt, weil sie Schwimmbäder, Bibliotheken und Theater geschaffen haben. Wenn Privatmenschen ihren eigenen Swimmingpool bauen und es sich sogar leisten können, sich sogenannte Stars für Auftritte im eigenen Wohnzimmer zu mieten, dann soll das dagegen ein Zeichen dafür sein, dass sich Leistung wieder lohnt?!

Doch wie sehen die Pläne der neuen Bundesregierung aus, mit denen sie die zunehmende Schieflage im Land bekämpfen will. Die Bundeswehr muss familienfreundlicher werden.

Als ich für die kommunalen Beschäftigten familienfreundlichere Arbeitsbedingungen ins Gespräch brachte, kostete mich dies mein Antragsrecht. Aber eine Kommune ist ja auch keine Armee. Eine Kommune ist ja auch nicht systemrelevant. Für die politische Ausrichtung der nächsten Jahre, sind schlagkräftige Polizisten und Soldaten relevant, nicht demokratische Strukturen. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz wurde diese Zielrichtung der neuen Regierung öffentlich bestätigt: “Die Zeit der Zurückhaltung ist vorbei.“

Zu diesem Trend passt auch die Tatsache, dass wir in Netphen letztes Jahr Geld, welches für Spielplätze im Haushaltsplan stand, dann doch lieber in die Erneuerung von Ehrenmälern investiert haben.

Diese Ehrenmäler, so hat man mir in der Schule erzählt, sollen uns daran erinnern, wo es hinführt, wenn man sich verheerenden Entwicklungen nicht rechtzeitig entschlossen entgegenstellt. Sie waren Ausdruck eines Schwurs, niemals wieder wegzusehen, niemals wieder auch nur ansatzweise eine Entwicklung zuzulassen, wie sie vor 80 Jahren möglich war.

Auch damals unterschied man in Sieger und Verlierer. Auch damals hat man sich selbst beschwichtigt, oder insgeheim darauf gehofft, zu den Siegern zu gehören. Auch damals waren es viele kleine Rädchen, die schweigend ineinander griffen, und so scheinbar ohne eigene Schuld eine Katastrophe ermöglichten. Irgendwann war es dann zu spät. Damals wurde zurückgeschossen, heute ist einfach die Zeit der Zurückhaltung vorbei.

Ein Teil meiner Großeltern reckte damals den Arm und träumte davon, zu den Siegern zu gehören, der andere Teil hat von Anfang an versucht dagegen kämpfen. Ihr katholischer Glaube war stärker als Bequemlichkeit, Angst und Ignoranz. Mit Gesprächen und Plakaten haben sie versucht, der durch die Medien verbreiteten Meinung wenigsten minimalen Widerstand entgegenzusetzen, bis die Gestapo kam und sie abholte. Selbst Plakate sind in Netphen mittlerweile verboten. Dummheit, oder Berechnung?

Ich behaupte nicht, dass man die heutigen politischen Absichten mit denen damals vergleichen kann (den Prozess kann ich mir nicht leisten), aber die Zeichen sind erschreckend:

„Es herrscht Klassenkrieg, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt und wir gewinnen.“ sagt Warren Buffet, der amerikanische Milliardär. Allein durch vermeidbaren Hunger fordert dieser Krieg jedes Jahr mehr Todesopfer, als der gesamte zweite Weltkrieg. Auch bei uns feiern die Reichen Erfolge im Kampf gegen die Masse:

Abbau der demokratischen Mitbestimmung, Streichung der Prozesskostenhilfe, bei gleichzeitiger Erhöhung der Gerichtskosten, Nachsicht der Justiz bei Reichen und Mächtigen, Einflussnahme auf Steuerfahnder und Staatsanwälte, Abhängen der unteren Gesellschaftsschichten, Amnestiegesetze für Steuerflüchtlinge, Beeinflussung der Medien, Verstrickung von Geheimdiensten in rechte Mordserien, lückenlose Überwachung sämtlicher Telefone und Internetdaten, zunehmende Übergriffe der Polizei auf Demonstranten ohne rechtliche Konsequenzen, Sicherheitszonen, Abhängigkeit vieler Parteien von Großspenden der Konzerne, Zunahme der Militarisierung der deutschen Außenpolitik, Akzeptanz der Folter und gezielten Tötung als politische Mittel.

Während noch vor kurzem die Verfassung unsere Armee auf eine reine Verteidigungsarmee beschränkte, bereiten wir sie gerade auf neue Einsatzgebiete in Afrika vor. Während noch vor kurzem der Einsatz der Armee im Inneren strikt verboten war, probt sie mittlerweile in eigens dafür geschaffenen Trainingsgeländen die Aufstandsbekämpfung im eigenen Land.

Es ist in diesem Land bereits verboten, sich gegen Schlagstöcke und Tränengas passiv zu wehren. Überwacht und kontrolliert wird jeder.

Neben Gesprächen waren Plakate der stärkste Hebel, den mein Großvater ansetzen konnte. Der stärkste Hebel, den ich besitze, den wir hier alle besitzen, ist der, wenigstens „NEIN“ zu sagen. Die Zeit der Zurückhaltung ist vorbei. Wir müssen uns endlich darüber verständigen, dass zu viel in der allgemeinen Entwicklung der letzten Jahre in die völlig falsche Richtung lief. Dieses Nein ist der einzige Hebel, den ich im Moment sehe, um die Maschinerie einmal anzuhalten, um uns eine Denkpause zu verschaffen, die Mitbürger aufzuwecken und ihnen mitzuteilen, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Es wird Zeit, darüber nachzudenken, wohin wir unsere Gesellschaft steuern sollen.

Sollen unsere Kinder und Enkel in den Geschichtsbüchern wieder einmal lesen: „Wir haben es nicht gewusst?? Wollen wir uns von den Medien weiterhin eine heile Welt vorspielen lassen von der wir wissen, dass sie nicht existiert?

Noch können wir die Demokratie demokratisch verteidigen. Wir können aufhören, schweigende kleine Rädchen zu sein. Ich möchte, dass wir mehr hinterlassen, als bloß einen Grund für weitere Mahnmale.

Ich befürchte zwar, dass Sie, meine verehrten Ratskolleginnen und Kollegen auch dieses Mal nicht über Ihren Schatten springen können, jedenfalls nicht viele von Ihnen. Zu sehr halten viele an Ihrer Überzeugung fest, alle politischen Entscheidungen unserer Regierungen würden zugunsten der Allgemeinheit getroffen.

Aber auf der anderen Seite hat dieser Rat in den letzten Jahren gelernt sehr konstruktiv und sachlich zusammen zu arbeiten. Vielleicht finden wir heute gemeinsam den Mut, einen Schlussstrich unter den schleichenden Niedergang zu ziehen.

Denn wie sonst sollen unsere Finanzprobleme gelöst werden, wenn unsere Steuerpolitik nicht den Bedürfnissen angepasst wird. Steuer hat etwas mit Steuern zu tun, sollte es zumindest. Eine Regierung hat mit diesem Regulierungsinstrument die Möglichkeit Gelder innerhalb eines Staates so zu lenken, wie es zum größtmöglichen Nutzen für die Allgemeinheit ist. Irgendwann muss doch jeder mal erkennen, dass Geld nicht endlos in wenigen Händen gehortet wird. Es geht nicht darum, Alles und Alle gleichzumachen, es geht darum, das Ausbluten der Menge und der Kommunen zu verhindern.

Wie sehen denn unseren eigenen Handlungsmöglichkeiten noch aus? Erhöhung der Grundsteuer? Entlassung eines Großteils der Verwaltung? Verkauf von städtischem Eigentum? Warten auf die Wunderwaffe? Das kann es doch nicht sein.

Konstantin Wecker war letzte Woche in Netphen. Ich war leider auf einem anderen Konzert, deshalb habe ich seinen Auftritt hier nicht gesehen. Ich hätte gerne mitbekommen, ob er hier auch so deutliche Worte spricht, wie im Internet. Dort ruft er ganz offen zur Revolte auf. Friedliche Revolte oder der sichere Untergang. Auch er weiß, dass es nicht leicht sein wird, den Zug anzuhalten, in dem wir alle auf den Abgrund zu rasen. Aber alles ist besser, als einfach weiter zu fahren, und bloß alle paar Jahre über die Sitzordnung abzustimmen. Solange, bis auch wir endgültig zu den Besiegten gehören.

Franz Kafka hat in einem Stück diese Haltung sehr treffend beschrieben:

„Übrigens sah der Verurteilte so hündisch ergeben aus, dass es den Anschein hatte, als könnte man ihn frei auf den Abhängen herumlaufen lassen und müsse bei Beginn der Exekution nur pfeifen, damit er käme.“

Wir können also entweder darauf warten, dass man nach uns pfeift, damit wir wie die anderen Kommunen schweigend untergehen. Aber wir könnten auch die Stadt sein, die das Zeichen dafür gegeben hat, das Schicksal wieder in die eigene Hand zu nehmen.

Wir stimmen hier nicht über unser Wohlergehen ab, sondern über das der Stadt. Sie wird es uns danken.

Die Linke kann diesem Haushaltsentwurf nicht zustimmen.