Detail - Haushaltsreden Stadt Netphen

Haushaltsrede zum Haushalt 2020 der Stadt Netphen

Rat Netphen, Ekkard Büdenbender

Netphen, Haushaltsrede 2020, Die Linke

Seit Jahren treten wir hier auf der Stelle. Wir lassen uns lähmen von der Angst vor dem Nothaushalt. Wie nahezu alle Kommunen im Land haben wir gekürzt, gespart und zusammengestrichen, was sich kürzen, sparen und streichen ließ, oft weit darüber hinaus. Denn Bund und Länder erklärten die Null als höchstes Gut. Die Ergebnisse lassen sich nicht leugnen. Die Kassen des Bundes haben sich erholt. Aber die gesellschaftlichen Probleme haben sich verstärkt. Die großen Probleme der Vergangenheit sind die größer gewordenen Probleme der Gegenwart. Anstatt gemeinsam Strukturen zu schaffen, die den sich ständig verändernden Lebensbedingungen in Deutschland Rechnung tragen, die einer modernen Industrie- und Bildungsnation entsprechen, hat unser Land die Standards gesenkt und die Rechnungen erhöht, auch in Netphen.

Der Druck, unter dem ein immer größer werdender Teil der Bevölkerung dadurch leidet, entlädt sich schon jetzt immer häufiger in der Öffentlichkeit. Nicht nur in den sozialen Netzen, auch auf unseren Straßen. Während immer mehr Menschen das Gefühl haben, dass ihre Stimme nichts mehr zählt, wird diesen Menschen gleichzeitig immer mehr Verantwortung auferlegt. Sie sollen selbst an ihre Rente denken, ihre Kinder fördern, die Eltern pflegen. Sie sollen bei Kaufentscheidungen die Nachhaltigkeit der Produkte im Blick behalten, immer positiv nach vorne schauen und dabei ihren ökologischen Fußabdruck reduzieren. Sie sollen sich individuell absichern und dabei sozial verhalten.

Sowohl der einzelne Mensch, die einzelnen Kommunen, als auch unser ganzes Land stehen vor gewaltigen Herausforderungen. Herausforderungen, deren Lösungen keinen Aufschub mehr erlauben. Aber die Angst vor einem drohenden Nothaushalt, unsere selbst verschuldete Unmündigkeit sorgt seit Jahren dafür, dass wir nicht einmal mehr daran denken, dass wir hier längst an Lösungen arbeiten müssten. Und so ignorieren wir auch in Netphen, dass viele Pflegekräfte noch immer 12 Tage am Stück arbeiten müssen, dass viel zu viel Unterricht an den Schulen ausfällt. Wir akzeptieren, dass Altersarmut in unserem reichen Land genauso normal wird, wie die Armenspeisung. Und mittlerweile sehen wir zu, wie unsere Wälder sterben und zucken nur noch mit den Schultern. Wir haben verlernt, uns unseren Herausforderungen zu stellen.  Denn weder der einzelne Mensch noch der Mensch als Gemeinschaft steht im Mittelpunkt. Die schwarze Null steht im Mittelpunkt.  Dabei lässt sich heutzutage durch einen gezielten Hackerangriff alles in eine Null verwandeln. Aber eine intakte Umwelt, ein menschengerechtes Klima, Pflege- und Bildungssysteme, Infrastrukturen und gemeinschaftlicher Zusammenhalt lassen sich nicht per Mausklick konstruieren.

Gesellschaftliche Entwicklung braucht Strukturen, die konstruktive Auseinandersetzungen möglich machen. Wir müssen miteinander reden, diskutieren und streiten. Wenn wir eine lebenswerte Zukunft haben wollen, müssen wir sie zum Thema machen. Wir stehen nicht vor einer kleinen Krise, wir steuern auf eine Katastrophe zu. Das müssen wir endlich begreifen. Es müssen Entscheidungen von uns getroffen werden, um unsere Lebensgrundlage und die der nächsten Generation zu erhalten. Wir müssen darüber reden, wie unser Zusammenleben aussehen soll, wenn der Großteil der Bevölkerung alt, arm und pflegebedürftig ist.  Wir müssen Entscheidungen darüber treffen, wie wir mit unseren sterbenden Wäldern umgehen wollen. Wir müssen darüber reden, wie wir uns vor Dürre und Starkregen schützen wollen.  Die junge Generation geht weltweit auf die Straße, weil sie mit Entsetzen festgestellt hat, dass wir den Ernst der Lage nicht erkennen.

Dieser Haushaltsentwurf verstärkt das Entsetzen noch. Die Verwaltung schlägt vor, die Steuern zu erhöhen und gleichzeitig die Leistung pauschal zu reduzieren. Anstatt sich endlich den Problemen zu stellen, versteckt sie sich hinter Haushaltszahlen. Sie lässt dieses Mal sogar die Statistik über die jährlichen Vollstreckungsfälle in der Stadt unter den Tisch fallen. Schon die letzte Erhöhung war für viele eine Erhöhung zu viel. Sie verdrängt zudem, dass in Zeiten, in denen sowohl unsere Wälder als auch unsere Gemeinschaft sterben, wir unsere Anstrengungen nicht reduzieren, sondern erhöhen müssen.

Wer die düsteren Prognosen über unsere Finanzen liest, der muss glauben, wir hätten einen Krieg verloren oder wären von einem Erdbeben heimgesucht worden. Dabei ist Geld da, viel Geld. Nur nicht in den Kommunen. Denn in den Räten der Städte und Gemeinden scheint man nicht begriffen zu haben, dass das Geld nicht dahin wandert, wo die meiste Arbeit geleistet wird, nicht dahin, wo es der Mehrheit der Bevölkerung nützt, sondern dahin, von wo die lautesten Forderungen kommen. Und da sich mit Geld im Rücken besser Gehör verschaffen lässt als ohne, fließt das Geld in unserem System dahin, wo es ohnehin schon ist. Seit Jahren jammern die Kommunen, dass ihnen das Geld fehlt. Aber Jammern hilft nicht. Die Mautverträge, die Minister Scheuer unterzeichnet hat, sind dem Staat Hunderte Millionen Euro wert, das Konnexitätsprinzip uns gegenüber aber nur ein müdes Lächeln. Die einen erstreiten sich ihre Rechte, die anderen eben nicht.

Seit Jahren fordere ich, dass wir endlich anfangen zu kämpfen. Denn ohne Kampf wird es nicht gehen, ist es nie gegangen. Hier wird doch niemand so naiv sein zu glauben, dass diejenigen, die das Geld verteilen, plötzlich anfangen, sich für Basisdemokratie zu begeistern. Hier wird doch wohl niemand ernsthaft davon ausgehen, dass die Geldströme plötzlich sinnvoll umgelenkt werden, weil bei Konzernen und Milliardären sich plötzlich ein Sättigungsgefühl einstellt und sie ihre Macht und ihren Reichtum gerne mit uns teilen wollen. Die 40 Milliarden, die Olaf Scholz als Almosen für die Kommunen in den Raum stellt, sollen doch kein Beginn einer Trendwende sein. Es geht doch nur darum, ein nützliches System so lange am Leben zu halten, wie es nützlich ist. Deswegen muss der Druck immer wieder einmal ein bisschen reduziert werden, damit wir eben nicht wirklich aufbegehren. Deswegen sollen wir jetzt die Steuern nur so weit anheben, dass es nicht zur Gegenwehr kommt.

Dass die Bürgerinnen und Bürger bereit sind, sich zur Wehr zu setzen und zu engagieren, haben sie letztes Jahr gezeigt. Sowohl zum Thema KAG als auch zum Thema Klimawandel sind sie auf die Straße gegangen und haben sich hilfesuchend an den Rat gewandt. Dass dieser Rat aber bloß in der Lage war, eine ungefährliche Resolution zum Thema KAG zu verfassen, die nichts bewirken wird, aber die Klimaaktivisten nicht einmal zu Wort kommen ließ, hat mich regelrecht schockiert.

Dabei hätten die Klimaaktivisten gerne erklärt, wieso die Ausrufung eines Notstandes sinnvoll ist. Denn nur wenn wir endlich aufhören, die Erkenntnis, dass wir handeln müssen vor uns her zu schieben, haben wir eine Chance. Wir müssen begreifen, dass ein drohender Notstand, den niemand ernsthaft bekämpft, bereits ein Notstand ist, weil er zeigt, dass wir nicht handlungsfähig sind, dass wir ohnmächtig gegenüber Bedrohungen geworden sind.

Seit Jahrzehnten ignoriert die Gesellschaft, dass die Pflege am absoluten Limit ist, mittlerweile weit darüber hinaus.

In den Krankenhäusern sterben Menschen an Infektionen, weil Antibiotika in den Schweinemastfabriken mehr Profit einbringen. Niemand kann mir erzählen, dass uns billiges Fleisch mehr wert ist als das Leben unserer Angehörigen, dass wir uns also bewusst für billiges Fleisch und gegen unsere Werte entscheiden. Nein, wir ignorieren das Problem einfach.

Unsere Gesellschaft akzeptiert, dass wir seit Jahrzehnten zu wenig Pädagogen ausbilden, dass jetzt Quereinsteiger unser Bildungswesen retten sollen. Im Land der Dichter und Denker ist die Bildung zur Nebensache verkommen. Wir ignorieren das einfach, obwohl wir wissen, dass es nicht die Rohstoffe sind, die unseren Reichtum ausmachen, sondern unser Wissen.

Seit 10 Jahren sitze ich hier in diesem Rat, in dem jeder weiß, dass das Finanzierungskonzept der Kommunen nicht in unserem Sinne funktioniert. Wir alle wissen, dass wir unter diesen Bedingungen unsere Stadt nicht so entwickeln können, wie es möglich, wie es nötig wäre. Wir doktern hilflos vor uns hin, sparen hier und erhöhen die Gebühren dort. Und draußen stirbt der Wald und unsere Gemeinschaft.

Die Entwicklung unserer technischen Möglichkeiten schreitet in einem atemberaubenden Tempo voran. Dabei steigert sich das Tempo von Jahr zu Jahr. Aber das zivilisatorische Niveau befindet sich im Gegensatz dazu in einer immer schneller drehenden Abwärtsspirale. Wenn eine Kultur sich angesichts von Krisen nicht weiterentwickelt, sondern so wie wir einfach stehen bleibt und mit den Schultern zuckt, dann geht sie den Bach runter. In vielen Firmen hingen in den 90er Jahren Motivationstafeln, mit schlauen Sprüchen wie „wer aufhört besser zu werden, wird schlechter“. Wir haben aufgehört besser zu werden.

Meine liebe Ratskolleginnen und Kollegen, wir dürfen nicht länger ignorieren was uns bedroht. Noch können wir überlegt agieren. Aber wir müssen uns entscheiden es auch zu tun. Unser Land verändert sich, nicht nur in der Natur. Die alltägliche Aggression nimmt erschreckende Ausmaße an, reden Sie mal mit Polizisten. Es betrifft nicht nur die Randgruppen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt schmilzt schneller als die Polkappen.  Wir stehen an einem Wendepunkt. Schauen Sie in die Geschichtsbücher! Es gab immer wieder diese Phasen, in denen eine Kultur vor die Entscheidung gestellt wurde, sich weiterzuentwickeln, oder zurückzufallen.

Eine Erhöhung der Steuer bei gleichzeitiger Senkung der Leistung, wäre ein weiterer Beitrag dazu, alles an die Wand zu fahren. Wenn Sie das für alternativlos halten, dann fahren Sie Stadt und Demokratie halt an die Wand.

Aber ich bin der festen Überzeugung, dass Politik niemals alternativlos ist. Lassen Sie uns diesen Haushaltsentwurf ohne Steuererhöhung und ohne pauschale Leistungskürzung verabschieden. Lassen Sie uns statt globalen Einsparungen lieber pauschal 100.000 Euro in einen Netphener Zukunftsfond investieren. Lassen Sie uns unseren Mitmenschen und der Aufsichtsbehörde erklären, dass in Netphen ab jetzt Probleme nicht mehr ignoriert und verdrängt, sondern endlich gemeinsam angegangen werden. Und wenn man uns dafür noch weiter entmachten möchte, dann werden wir nicht jammern, sondern gemeinsam auf die Straße gehen. Und glauben sie mir, wir werden dort nicht allein stehen.

Keiner von uns hat für unsere Probleme eine fertige Lösung in der Schublade. Niemand von uns kann sagen, wie wir jetzt mit unseren sterbenden Wäldern umgehen sollen. Niemand von uns kann sagen, welche gesellschaftlichen Probleme wir hier vor Ort zuerst angehen wollen, und wie wir die Lösung finanzieren sollen. Aber wenn wir einen Schlussstrich ziehen und den Mut aufbringen, neue Wege zu erproben, dann werden wir es bald wissen. Wovor haben wir denn Angst? Die letzten Jahre haben doch gezeigt, wohin dieser Kurs führt. Lassen Sie uns die restliche Zeit dieser Legislaturperiode dazu nutzen, mit unseren Bürgerinnen und Bürgern darüber zu reden, was unsere drängendsten Probleme sind. Lasst uns Meinungen und Ideen sammeln. Und dann lasst uns gezielte Ausschüsse bilden, die die Aufgabe haben, diese Probleme gemeinsam zu lösen, nicht zu verschieben. Lasst uns unsere Gesellschaft weiterentwickeln, lasst uns besser werden. Lasst uns kämpfen, nicht jammern.