Die „Reichspogromnacht“ im November 1938

Waldemar Grytz, OV Wittgenstein

Die „Reichspogromnacht“  im November 1938  
 
Um der Geschehnisse vor 80 Jahren zu gedenken hatte der Ortsverein der Partei DIE LINKE im Altkreis Wittgenstein für den 5.11.2018 zu einer Filmveranstaltung eingeladen. Der Spielfilm „Professor Mamlock“ von Konrad Wolf aus dem Jahr 1961, nach einem Theaterstück des Arztes und Schriftstellers Friedrich Wolf, handelt von einem jüdischen Arzt, der nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten erfahren muss, wie sich Freunde, Bekannte, Kollegen von ihm und seiner Familie abwenden. Friedrich Wolf hatte mit dem Theaterstück schon 1933 aufgezeigt, wie schnell Vorurteile, rassistische Ressentiments, aber auch Eigennutz zu dem geführt haben, was Kurt Schuhmacher (SPD) als die Mobilisierung des „inneren Schweinehunds“ durch den Nationalsozialismus bezeichnet hat. Die Einführung in das Thema und seinen lokalen Bezug sollte Waldemar Grytz geben, in Berleburg geboren, Mitglied der Friedrich-Wolf-Gesellschaft und stellv. Landesvorsitzender der Naturfreunde Württemberg.
 Die Veranstaltung musste nach dem kurzfristigen Rücktritt des Betreibers der gebuchten Räume  abgesagt werden. Dass nach der Veröffentlichung des Termins in der Lokalpresse  Druck ausgeübt wurde, bleibt zu vermuten.
 Wir dokumentieren nachfolgend die vorgesehene (und aus aktuellem Anlass erweiterte) Einführung in das Thema:
 
Die „Reichspogromnacht“ in Wittgenstein
 
In der Reichspogromnacht am 9.11.1938 wurden vor 80 Jahren in ganz Deutschland hunderte Synagogen in Brand gesteckt oder verwüstet, Menschen jüdischen Glaubens verfolgt und gedemütigt. Anlass war das Attentat des Studenten Grynspan auf den Botschaftsrat von Rath in Paris. Es war ein verzweifelter (und vom Ergebnis her zweifelhafter) Protest gegen die zuvor durchgeführte Abschiebung von tausenden sogenannter „Ostjuden“ aus dem Deutschen Reich über die Grenze nach Polen. Die Nachricht wurde über alle Reichssender in kürzester Zeit verbreitet und die NSDAP nutzte das Attentat, um die folgenden Ausschreitungen zu rechtfertigen.  
 Tags zuvor war in der Wittgensteiner Kreiszeitung zu den jährlichen „Gefallenenfeiern“ zum HitlerLudendorff-Putsch 1923 aufgerufen worden. Dieser nach dem Muster Mussolinis „Marsch auf Rom“ geplante Putsch gegen die Weimarer Republik scheiterte, wurde von den Nationalsozialisten aber als „Feiertag der Bewegung“ begangen.  In Berleburg trafen sich NS-Anhänger an dem Tag in der Turnhalle und zu einem Aufmarsch der SA, HJ und Fliegerschar auf dem Horst Wessel-Platz (Marktplatz). Die NS-Frauenschaft feierte im Westfälischen Hof. Im Laufe des Tages kam es zur  Plünderung und Verwüstung der Synagoge, Inventar wurde verbrannt, jüdische Wohnungen und Geschäftsräume wurden verwüstet.  Ähnliche Ausschreitungen gab es in Laasphe, auch in Beddelhausen und Schwarzenau. In Siegen wurde  die Synagoge durch Brandstiftung zerstört; in Hilchenbach gab es Festnahmen, öffentliche Bloßstellungen und Misshandlungen jüdischer Männer auf dem Marktplatz.
 In einer kleinen Notiz wird im Kreisblatt am 10. November verharmlosend darauf hingewiesen, dass es nach den Feiern „spontane Kundgebungen gegen die Juden“ gegeben habe. „Da die Erbitterung gegen di e aufsässigen Juden groß war, mussten diese zu ihrem eigenen Schutz in Schutzhaft genommen werden.“
 
Einen weiteren Tag später wird im Kreisblatt an den zweiten Eintopfsonntag erinnert und dass an der Odeborn bei Schüllar ein seltenes Exemplar des „grünfüßigen Wasserhuhns“ beobachtet wurde … außerdem seinen aufsässige Juden nach auswärts befördert worden. Zur Untermalung dieser Nachricht wird unter „Die Heimat erzählt - Jud bleibt Jud“  ein Text abgedruckt über den Fall eines Bauern, der 1797 (vor über 140 Jahren also!) vom Viehhändler David Goldstein um Haus und Habe gebracht worden sei. Die NS-Zeitung kündigt an, dass „die Juden“ für das Attentat in Paris eine Milliarde Reichsmark als Buße zu bezahlen haben.
 Im Anschluss an den 9. und 10.11.1938 kommt es zur Deportation von männlichen Mitgliedern der regionalen jüdischen Gemeinden im Alter von 14 bis 70 Jahren in das KZ Sachsenhausen und zur Ausschulung jüdischen Schüler in Siegerland und Wittgenstein Ein Angehöriger der Laaspher Familie Marburger wird  in der Haft zu Tode geprügelt,  Die Monate sind geprägt von Flucht und Vertreibung jüdischer Siegerländer und Wittgensteiner ins Ausland und in die Großstädte, In den folgenden Jahren  werden jüdische Bürger, wenig später auch sogenannte Zigeuner und Jenische, in die KZs und Vernichtungslager verschleppt und die meisten ermordet.
 Besonders widerwärtig ist die (vielfältig dokumentierte) Aneignung des Eigentums der ins Ausland Gegangenen oder Ermordeten durch die Mehrheitsbevölkerung und den Staat. Viele profitierten ungeniert von der Notlage der Verfolgten. Grundstücke jüdischer Bürger der Stadt Berleburg nutzte z.B. die Bau- und Siedlungsgesellschaft für den (national)sozialen Wohnungsbau,  
 
Anti-Semitismus in Siegen-Wittgenstein  
 
Was um den 9. November 1938 geschah war ein (leider nur vorläufiger) Höhepunkt des in Deutschland über Jahrzehnte grassierenden Antisemitismus.
 Das Emanzipationsgesetz des Norddeutschen Bundes hatte 1869 „alle noch bestehenden Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte“, die aus der Verschiedenheit der religiösen Bekenntnisse hergeleitet wurden, aufgehoben. Damit war die Gleichstellung der Juden zwar formaljuristisch vollständig hergestellt, im Alltag aber nicht sozial verwirklicht,  So entwickelte sich  im späten 19. Jahrhundert eine Gegenbewegung im deutsch-völkischen Lager. So zog z.B. der  Berliner Hofprediger Adolf Stoecker durch die Lande und fand besonders in stark evangelisch geprägten Landstrichen Anhänger für seine anti-semitische Propaganda. Den Wahlkreis Siegen-Wittgenstein-Biedenkopf vertrat er (mit Unterbrechungen) bis 1908 im Reichstag.
 Kurze Zeit nach dem ersten Weltkrieg und der Gründung der ersten Republik gab es in Siegen 1919 erste antisemitische Flugblattaktionen, 1920 eine Synagogenschändung. Im christlich-sozialen Zentralorgan Das Volk (Siegen) der DNVP wird die „Verbannung“ aller Juden aus dem politischen und bürgerlichen Leben, für „Ostjuden“ aber „Konzentrationslager“ gefordert
 1921 findet das erste Jahresfest des Siegener Kriegervereins nach dem Krieg statt, Die Häuser sind mit Schwarz-Weiß-Rot beflaggt, den Farben der rechten Verfassungsgegner, ein Haus mit Schwarz-Rot-Gold. Im gleichen Jahr: Straßenunruhen und Forderung nach Preissenkungen, Plünderungen vor allem der meist jüdischen Textil- und Schuhgeschäfte in Siegen und Weidenau, massiver Polizeieinsatz, dabei viele Schwerverletzte, ein Toter
 
Beim Schützenfest in Siegen im Juli 1923 ist die Beflaggung der Häuser wieder Schwarz-Weiß-Rot, ein Haus mit Schwarz-Rot-Gold. Der jüdische Eigentümer wird angegriffen und muss das Bekenntnis zur Verfassung entfernen. In Laasphe kommt es im Oktober 1930 zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen jüdischen Bürgern und SA.
 In Arfeld gibt es im Februar 1933 Ausschreitungen gegen jüdische Familien, Im September wird In Laasphe Max Hony von der SA mit Schild und Schelle als Jude und „Rassenschänder“ durch die Straßen geführt und über die Grenze nach Hessen getrieben. Mitte November wird in Berleburg, Fischelbach und Raumland Kunden jüdischer Geschäfte die Bekanntgabe auf „Schandtafeln“ angedroht, was z. T. auch umgesetzt wird.
 Im April 1934 werden mit Beginn des neuen Schuljahrs jüdische Schüler aus Mittelschule und Gymnasium durch die örtlichen Rektoren ausgeschlossen.
 Ab 1936 dürfen jüdische Händler nicht mehr am Krombacher Viehmarkt teilnehmen. In Laasphe wird der Sohn des Rechtsanwalts Walther Hesse von der SA in einem Umzug mit Schild und Schelle als Jude und „Rassenschänder“ durch die Straßen geführt. Im April in Berleburg und Laasphe: öffentliche Bloßstellung jüdischer und „zigeunerischer“ Wittgensteiner Familien im Zuge einer Wanderausstellung zu Rassenbiologie und Erbhygiene. Mit 6.000 Besuchern höchster Besuch im Gau Westfalen-Süd, Begleitveranstaltungen, Auftritte des SGV und örtlicher Gesangvereine.
 9.11.37 Gedenkfeier für die „Gefallenen der Bewegung“ in der Breimerschen Fabrik (später SMS) mit SA Brigadeführer Paul Gießler. Weitere Feiern mit  SA Stark,  
 11.3.1938 Schauprozeß gegen die in die Niederlande geflüchtete jüdische Familie Marx (Siegen) vor einem Sondergericht Dortmund in Siegen
 28.10.1938 Deportation und Tod von Geisweider Juden im Verlauf der Abschiebung von 15.000 für staatenlos erklärten Juden als „Ostjuden“ über die Grenze nach Polen
 26.8.38 Die NS-Z berichtet über die Entjudung im Gau Westfalen Süd: Ladeninhaber und Verkäufer sollen verpflichtet werden sich gegenüber Kunden als Juden zu bekennen, wenn sie selbst solche sind oder das Geschäft einem solchen gehört.
 28.10.1938 Deportation und Tod von Geisweider Juden im Verlauf der Abschiebung von 15.000 für staatenlos erklärten Juden als „Ostjuden“ über die Grenze nach Polen.
 Der Boden für die Pogrome am 9. November 1938 war also bestens vorbereitet.
 
Wer waren damals die Hooligans in braunem Hemd?
 
Man könnte meinen: 

  • verzweifelte Arbeitslose, die von der NSDAP eine Verbesserung ihrer Lage erhofften
  • ungebildete Menschen aus der Unterschicht,
  • vom 1. Weltkrieg traumatisierte Veteranen
  • vom Parteienstreit der ungeliebten „Weimarer Republik“ Enttäuschte

Nicht ganz falsch, aber oft und gerne vergessen: die Aktivisten, die in voller Inbrunst „dem Führer zugearbeitet haben“ so der Historiker Ian Kershaw, kamen überwiegend aus dem Mittelstand. Im Provinzstädtchen Berleburg aus dem Kreis der oberen 10.000 – soweit man diesen Begriff in einer Stadt mit 5.000 Einwohnern benutzen darf.

In der (sicher unvollständigen) Liste derer, die in irgendeiner Weise nach 1945 belangt wurden Berufsgruppen, die sich eher dem Mittelstand zuordnen lassen: Landwirt, Inhaber einer Schraubenfabrik, Chef des Gesundheitsamts, Gastwirt,  Förster im fürstlichen Dienst, Stadtinspektor, Zimmermeister, Drogist, leitender Arzt des Kreiskrankenhauses, Zahnarzt, Volksschullehrer und Leiter des Männergesangsvereins, Dachdeckermeister, Kaufmann, Hallenmeister des Schlachthofs, Kohlenhändler, Malermeister, Verwaltungssekretär, Industrieller und Kreisjägermeister, Kreisamtsleiter, Dipl. Ing. und Industrieller, Verwaltungsbeamter, Schuhmacher, Lehrer, Berufschuldirektor, Jurist, Klempnermeister, Bäckermeister, Direktor des Arbeitsamtes, Buchhändler…
 In den 50er Jahren galten die meisten weiterhin als angesehene Bürger - aktiv bei der CDU, der FDP, der Feuerwehr, im Schützen- oder Gesangsverein, als Zahnarzt, Drogist, Lehrer oder Verwaltungsbeamter.
 Als Beispiel für die „unbekümmerte“ Vergangenheitsbewältigung in einer westfälischen Kleinstadt mag nachfolgendes dienen:
 „Öffentliche Ehrungen werfen ein Schlaglicht auf die mehrheitliche Haltung in der Kleinstadt gegenüber den Handlungsträgern der Verfolgung einerseits und deren Opfern andererseits. Während die privaten und beruflichen Jubiläen des Zahnarztes Dr. Otto Nölke, Altparteigenosse, SS-Mitglied und 1949 wegen seiner Rolle bei der Synagogenbrandstiftung verurteilt, jeweils ausführliche und freundliche bis herzliche Erwähnung in der Lokalpresse fanden, musste Julius Goldschmidt dafür neunzig werden. In einer 1½ Zeilen-Notiz aus Anlaß seines Geburtstags einige Jahre zuvor hatte man sich erstaunt, daß er so „auffallend rüstig“ sei. Als er 1962 starb, war dies keine Meldung wert. Eine Woche nach ihm starb Karl Heinrich Schneider, Parteigenosse und ehemaliger geschäftsführender NS-Bürgermeister, der das Hab und Gut der deportierten Juden und angeblichen Zigeuner persönlich öffentlich versteigert hatte, ein wegen Beteiligung an der „Zigeuner“-Deportation verurteilter NS-Täter, erfolgreicher Geschäftsmann und beliebter Vereinsaktivist. Hoch gewürdigt wurde er mit einem umfangreichen, zahlreiche Verdienste aufzählenden Nachruf.“

www.aktives-gedenkbuch.de/index.php/Detail/Object/Show/object_id/548gypsy-research.org/images/PDF/resources-wittgenstein-gypsies-auschwitz.pdf
 
Hooligans in Nadelstreifen?
 
Wenn heute ein führendes Mitglied der AfD die Zeit zwischen 1933 und 1945 als „Vogelschiss“ vor der ansonsten glänzenden deutschen Geschichte bezeichnet, wird es für Demokraten notwendig sein sich besonders den aktuellen „Hooligans in Nadelstreifen“ zu widmen – bundesweit, aber auch vor Ort!
 
Quellen:


- www.aktives-gedenkbuch.de 

- Regionales Personenlexikon zum Nationalsozialismus in den Altkreisen Siegen und Wittgenstein:  akteureundtaeterimnsinsiegenundwittgenstein.blogsport.dezwangsarbeitimsiegerland.blogsport.de

- Siegerländer Nationalzeitung, Wittgensteiner Kreisblatt 

- Dr. Ulrich Opfermann, u.a. „ Siegerland und Wittgenstein im Nationalsozialismus: Personen, Daten, Literatur. Ein Handbuch zur regionalen Zeitgeschichte , Siegen 2001; "'Mit Scheibenklirren und Johlen'. Juden und Volksgemeinschaft" von 200 9

- Berleburg im Nationalsozialismus , in: Rikarde Riedesel, Johannes Burkardt, Ulf Lückel (Hrsg.), Bad Berleburg

– Die Stadtgeschichte , Bad Berleburg 2009, S. 215–246 - Karsten Krampitz, „Jedermann sei untertan“ Deutscher Protestantismus im 20ten Jahrhundert. Irrwege und Umw ege. “