Kinderarmut in Wittgenstein

OV Wittgenstein

Über die Fragebogenaktion der LINKEN

Die Zahl der Kinder, die von Hartz IV leben müssen, wächst weiter. Das hat das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung festgestellt. DIE LINKE fordert, nach diesem Befund nicht einfach zur Tagesordnung überzugehen.

Fraktionsvorsitzender Sascha H. Wagner: „Kinderarmut ist Folge von Elternarmut. Deshalb brauchen wir existenzsichernde Arbeitsplätze für die Eltern. Aber auch eine starke öffentliche Infrastruktur, die allen Kindern Förderung und Teilhabe ermöglicht.“

In dem seit kurzem bestehenden Ortsverband Wittgenstein der Partei „Die Linke“ hat sich eine Arbeitsgruppe zum Thema „Kinderarmut in Wittgenstein“ gebildet.

Das Ziel dieser Arbeitsgruppe ist es, das Problem der Kinderarmut ins öffentliche Bewusstsein unserer Heimatregion zu heben und es zu einem kommunalpolitischen Thema zu machen. Denn im Gegensatz zur landläufigen Meinung existiert Kinderarmut nicht nur in großen Städten, sondern auch hier bei uns auf dem Lande. Laut der neuen Armutsstudie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes stieg die allgemeine Armutsquote in NRW 2013 auf 17,1% an. Wie überall in Deutschland sind Kinder davon überproportional betroffen. Für NRW heißt dies, dass jedes 5. Kind unter 15 Jahre von Armut betroffen ist. In Siegen-Wittgenstein stieg ihr Anteil 2014 auf mindestens 12,1%. Wir sagen mindestens, weil diese Quote nur diejenigen Kinder erfasst, deren Eltern Sozialleistungen nach dem SGB II beziehen („Hartz IV“). Die Zahl der von relativer Einkommensarmut betroffenen Kinder liegt aber stets höher, weil es auch Eltern gibt, die keine Leistungen nach dem SGB II beziehen und trotzdem unter die Armutsschwelle fallen bzw. in Armutsnähe leben. Diese Gruppe umfasst v.a. jene Eltern, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen mit niedrigen Löhnen arbeiten. Das führt dazu, dass zwar die Zahl der Beschäftigten steigen mag, doch Erwerbstätigkeit nicht mehr wie früher automatisch vor Armut schützt. Umgekehrt führt ein Rückgang der Arbeitslosigkeit nicht mehr automatisch zu einem Absinken der Armutsquote. Auf diese zunehmende Entkoppelung von Beschäftigung und Armut weist auch die Armutsstudie des „Paritäters“ für NRW nachdrücklich hin. Wir gehen davon aus, dass diese Entwicklung in der Region Wittgenstein ebenfalls stattfindet und Armut auch hier nicht mehr ausschließlich ein Problem von Kindern in „Harz IV“-Familien ist, sondern darüber hinaus reicht.

Das Problem: weder auf Siegener Kreisebene noch auf Ebene der Wittgensteiner Kommunen Bad Berleburg, Erndtebrück, Bad Laasphe gibt es eine verlässliche und regelmäßige Sozialberichterstattung, die in der Lage wäre die tatsächliche Dimension der Kinderarmut sichtbar zu machen. Dabei sind die negativen Folgen von Kinderarmut seit langem bekannt und vielfach belegt. Kindern, die in Armut aufwachsen, mangelt es nicht nur an materiellen Ressourcen, sie sind in allen Dimensionen ihres Lebens beeinträchtigt. So weisen sie häufiger sprachliche, motorische, kognitive und soziale Entwicklungsdefizite auf, sind überdurchschnittlich oft von körperlichen und psychischen Erkrankungen betroffen, verfügen über weniger unterstützende soziale Kontakte und haben öfter Lernprobleme in der Schule. Armut ist für sie ein Entwicklungshemmnis ersten Ranges und sorgt schon früh dafür, dass sie bei der Verteilung der Lebenschancen ganz hinten landen. Aus ersten Gesprächen in Kindertagesstätten vor Ort wissen wir, dass diese Problematik auch hier in Wittgenstein wächst. Die Erzieherinnen erkennen Kinder aus einkommensarmen Verhältnissen vermehrt z.B. daran, dass sie nicht witterungsgerecht gekleidet sind, weil das Geld für Winterschuhe etc. fehlt, sie werden vor gemeinsamen Aktivitäten, zu denen die Eltern Geldbeträge beisteuern müssen „krank“, sie zeigen z.T. erste Verhaltensauffälligkeiten usw. Besonders betroffen sind die Kinder von Alleinerziehenden, von Arbeitslosen und von Einwandererfamilien. Doch die Erzieherinnen beobachten in ihren Einrichtungen ebenfalls den oben beschriebenen Trend zur Entkoppelung von Arbeitseinkommen und Armut. Sie beschreiben eine wachsende Gruppe von Eltern, die zumeist beide in schlecht bezahlten und unsicheren Jobs arbeiten müssen, sich nur mit größter Mühe über Wasser halten können, permanent von Abstiegsängsten geplagt und getrieben sind (Drohung „Hartz IV“!) und deren familärer Alltag somit von einem Übermaß an sozialem Stress geprägt ist. Im Gegensatz zur Familie im SGB II - Bezug fehlen ihnen staatliche Transferleistungen. Entweder weil sie nicht zur Gruppe der Anspruchsberechtigten gehören oder
weil sie keine Kenntnis und keine Zeit haben, um diese zu beantragen. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass die Betroffenen in den Ämtern ohnehin selten systematisch über ihre Ansprüche aufgeklärt werden.

Die Erzieherinnen selber haben häufig das Gefühl, den besonderen Problemlagen und Bedürfnissen dieser Kinder und ihrer Familien nicht gerecht werden zu können oder sie arbeiten ständig am Limit ihrer Leistungskraft, um dies zu tun. Obwohl es zu ihrer gesetzlich definierten Aufgabe gehört, auch diese Kinder noch irgendwie mitzunehmen und individuell zu fördern („Kinderbildungsgesetz“ in NRW), werden ihnen die dafür notwendigen materiellen und personellen Ressourcen oft nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung gestellt. Ihre unzureichende Bezahlung, die in keinem akzeptablen Verhältnis zu ihrer Verantwortung und Qualifikation steht, tut ein Übrigens, um aus gut gemeinten landespolitischen Ansätzen nicht mehr als eine Verwaltung des strukturellen Mangels werden zu lassen. So sind diese Kinder, deren Eltern oft aus Scham über ihre schwierige materielle Lage nicht sprechen können, auf informelle Hilfen der anderen Eltern angewiesen, die dann z.B. mit Kleidung aushelfen. Dem Engagement dieser Eltern und v.a. der Erzieherinnen, insbesondere aber der Tatsache, dass Kinder im Vorschulalter noch nicht spontan nach Klassenzugehörigkeit unterscheiden, ist es zu verdanken, dass in den Kitas noch nicht jene sozialen Ausschlusstendenzen voll wirksam werden, wie sie sich ab der Einschulung entfalten. Also dann, wenn das Rennen um die besten Startplätze in der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft offiziell eröffnet wird. Auch dies ist eine Erkenntnis, die wir aus unseren Gesprächen mit den Erzieherinnen vor Ort mitnehmen konnten.

Insgesamt beobachtet „Die Linke“ in Wittgenstein die beschriebene Entwicklung mit allergrößter Sorge. Wir halten sie angesichts der erwartbaren negativen Folgen für die Zukunft in unserer Region für alarmierend und vor dem Hintergrund eines wachsenden Reichtums in den Händen weniger für skandalös. Kinderarmut ist mehr als ein sozialer Missstand. Armut beraubt ein Kind seiner ungestörten Entwicklung und schädigt es im Kern seiner Identität. Wir sind daher mit dem bekannten Entwicklungspsychologen und Säuglingsforscher Martin Dornes einer Meinung, wenn er Kinderarmut in ihren negativen Folgen als „soziale Misshandlung“ der körperlichen Misshandlung von Kindern gleichsetzt. Gegen diese soziale Misshandlung einer offenbar auch hier wachsenden Zahl von Kindern braucht es ein handlungsfähiges regionales Netzwerk von Menschen, die sich dagegen engagieren. Ähnlich jenem Netzwerk zum Bundeskinderschutz-Gesetz, das seit kurzem in Siegen-Wittgenstein aufgebaut wird und sich primär der Früherkennung und Hilfe bei Kindeswohlgefährdung widmet. In diesem Sinne wird sich „Die Linke“ in Wittgenstein politisch dafür einsetzen, dass die Gefährdung des Wohles von Kindern nicht ausschließlich als Problem einzelner Kinder und ihrer Eltern abgehandelt wird. Anstatt wie alle anderen Parteien daran mitzuarbeiten, nur den von Armut betroffenen Familien Veränderungen abzuverlangen und damit die Verantwortung für die soziale Misere nur bei ihnen abzuladen (Stichwort „Fördern und Fordern“), wollen wir zukünftig unablässig auf die sozialen Ursachen dieser Entwicklung hinweisen. Kinderarmut ist in Wahrheit die Folge gewollter sozialer Ungleichheit in diesem Land und eine Form von Gewalt gegen Kinder. Nur ist es nicht die sichtbare Hand eines Erwachsenen, die da schlägt, sondern die „unsichtbare Hand“ des sogenannten freien Marktes. Und es sind Politikerinnen und Politiker jener neoliberalen Parteien, die diese unsichtbare Hand des Marktes anbeten und bewusst die politische Entscheidung getroffen haben, sie gewähren zu lassen. Sie werden wir nicht aus ihrer Verantwortung entlassen.