Haushaltsrede zum Haushalt 2016 der Stadt Netphen

Rat Netphen, Ekkard Büdenbender

Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger
Sehr geehrter Herr Bürgermeister
Sehr geehrte Damen und Herren des Rates, der Verwaltung und der Presse

In den letzten Jahren habe ich als Reaktion auf meine Reden immer wieder zu hören bekommen: “Herr Büdenbender, Sie haben ja Recht, - aber Sie wiederholen sich.“ Leider wiederholt sich auch die Geschichte unserer Haushaltsmisere jedes Jahr, ohne dass in Berlin, Düsseldorf oder hier jemand ernsthaft etwas daran ändern möchte. Die allgemeine Lage spitzt sich sogar mehr und mehr zu. Aber wir haben mittlerweile gelernt, uns an alle Missstände so lange zu gewöhnen, bis wir sie ignorieren oder zumindest als Normalzustand akzeptieren können.

Nachdem Europa jahrelang die Flüchtlingskrise, die rund um Europa herrschte, ignoriert oder zumindest als Normalzustand akzeptiert hat, ist diese mittlerweile sogar in Netphen angekommen. Alle unsere bisherigen Probleme scheinen angesichts dieser Herausforderung zu verschwinden, aber sie werden es eben nicht. Aber wer geglaubt hat, dass jetzt ein Umdenken in der Finanzpolitik gegenüber den Kommunen stattfinden würde, hat einfach nichts begriffen. Spätestens die Entscheidung der Landesregierung, das Geld für 200 Flüchtlinge, die Netphen zusätzlich aufgenommen hat, nicht an Netphen zu zahlen, sondern an Kommunen, die 200 Flüchtlinge weniger aufgenommen haben, zeigt worum es in diesem System geht. Die einen  verhalten sich sozial, die anderen bekommen das Geld. Das passt wie die Faust aufs Auge.

Diese desaströse Haltung gegenüber einer sozialen Demokratie ist genau so konstant, wie meine daraus folgende Ablehnung eines Haushaltes, der dieses akzeptiert. Ich weiß, dass ich mit dieser Haltung hier nicht einmal alleine stehe. Ich habe aber auch begriffen, dass dem Großteil von Ihnen die Folgen einer prinzipiellen Verweigerung zu unüberschaubar sind. Vielleicht gelingt es uns aber heute, zumindest einen kleinen Schritt in eine andere, gemeinsame Richtung zu unternehmen, solange wir noch die Möglichkeit haben. Denn was zurzeit unser Land zu vereinen droht, sind nicht gemeinsame Ziele,  sondern wieder einmal gemeinsame Feindbilder.

Jahrelang wurde in diesem Land dazu geschwiegen, dass die Kommunen in den Bankrott getrieben wurden. Jahrelang wurde bloß fasziniert beobachtet, wie die Politik es den Konzernen ermöglichte, nahezu steuerfrei Profite einzufahren. Jahrelang schwiegen alle zu den Statistiken, die zeigten, dass steigender Reichtum mit steigender Armut einhergeht. (62 Menschen besitzen so viel wie die finanziell untere Hälfte der Menschheit.) Kaum jemand wagte es, dieser Entwicklung  einen Riegel vorzuschieben. Aber wenn Menschen in Not unsere Hilfe erbitten, organisieren  Hunderte von Bürgermeistern plötzlich Widerstand, kriechen die Ratten aus ihren Löchern, erklären sich zu Rettern des Abendlandes.

Netphen hat sich dagegen  bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise als Vorzeigestadt präsentiert. Dienst nach Vorschrift sieht anders aus. Was in Netphen letztes Jahr geleistet wurde, verdient allerhöchsten Respekt.

Doch die angstvollen, teilweise schon hysterischen Reaktionen auf die ansteigenden Flüchtlingszahlen sind kein reiner Fremdenhass. Sie entstammen auch der Erkenntnis, dass sich unsere Politik schon vor Jahren von der Realität der breiten Masse zurück gezogen hat. Dass Menschen, denen das Wasser heute schon bis zum Hals steht, panisch darauf reagieren, wenn weitere Menschen ins Wasser gestoßen werden, sollte uns nicht überraschen. Nicht nur Netphen steht  vor dem Problem, dass wir ohne Geld fremden Menschen eine Zukunft aufbauen sollen, auf Kosten derjenigen, die sich schon seit Jahren ausgebeutet und missachtet fühlen. Wenn unsere Gesellschaft ihre Politik der Ausgrenzung beibehält, wird sie zerreißen.

Wenn wir also über Integration nachdenken, sollten wir uns bewusst sein, dass nicht nur geflohene Menschen vor der Frage stehen, welche Zukunft unsere Gesellschaft für sie bereithält. Vor der gleichen Frage stehen Schüler und Schülerinnen, die nach
dem Abschluss der Schullaufbahn immer häufiger völlig orientierungslos vor ihrer Zukunft stehen. Vor der gleichen Frage stehen Arbeitslose, die keine Perspektive mehr sehen, stehen all diejenigen, die in Jobs hängen, die weder glücklich, noch wirklich satt machen. Vor der gleichen Frage stehen jedes Jahr rund 10.000 Menschen ohne eine Antwort zu finden, und sich daher selbst das Leben nehmen. In unserem Land steigt die Zahl derer, die das Gefühl haben, dass wir irgendwann die falsche Abzweigung genommen haben.

Unsere Gesellschaft hat sich 40 Jahre einen Konkurrenzkampf zwischen Ost und West geliefert und nach dem Sieg  nicht eine Minute innegehalten um darüber nachzudenken, wofür wir eigentlich gekämpft haben und was  der vermeintliche Sieg gebracht hat. Wir haben erlebt, wie die Banken kollabierten, und Staaten in den Untergang rissen, weil wir versucht haben, Lebensinhalte mit Kontoständen zu bemessen. Wir zahlen noch heute an dieser Rechnung und fragen uns nicht wofür.

Wir sollten aufhören dabei zuzusehen, wie Burn-Out selbst bei Schülern  zur Selbstverständlichkeit wird, während sich ein Großteil der Bevölkerung auf Altersarmut einstellt. Wir sollten uns endlich einmal fragen, worin eigentlich unsere gemeinsamen Lebensziele liegen, wofür wir unsere Kinder großziehen, wofür unsere Kinder einmal kämpfen sollen.

Immer mehr Menschen sehnen sich nach einem Wechsel, immer mehr begreifen, dass es kein „Weiter so“ geben darf, dass wir an einem Scheideweg der Geschichte stehen. Unsere Gesellschaft wird sich auf jeden Fall verändern. Es wird nicht möglich sein, in Netphen 500-1000 Menschen aus einer anderen Kultur aufzunehmen, ohne dass dies Auswirkungen auf uns hat.  Wenn wir aber  sowieso vor gewaltigen Veränderungen stehen, sollten wir aufhören, darüber nachzudenken, wie es gelingen
kann, Menschen einem kranken System anzupassen, wir sollten endlich darüber streiten, wie ein System aussehen könnte, dass uns alle einfach glücklich macht. Statt zuzulassen, dass neue Gräben durch das Land gezogen werden, sollten wir gemeinsam darüber nachdenken, welche Lücken wir mit dem zusätzlichen Potential schließen können.

Wir sollten zu dem Schluss kommen, dass die Zeit des Abwartens vorbei ist.  Mit jedem weiteren Zögern verspielen wir das Vertrauen der Bevölkerung.

Die  Politik der sogenannten Mitte beschränkt sich nur noch auf die beiden Kernstrategien: „Wir schaffen das“ und „Wir wollen das nicht“. Wobei keiner sagt, wer es wie schafft, oder was wir mit denen machen, die wir nicht schaffen wollen. Doch während unsere Medien Montag für Montag den besorgten Bürgern ihre Aufmerksamkeit schenkte, in der stillen Hoffnung auf bunte Bilder von brennenden Städten, hat sich in Deutschland still und leise eine sanfte Revolution vollzogen. Anstatt wie üblich übernahmen diese Revolutionäre allerdings nicht die Macht, sondern bloß die Verantwortung, die sonst niemand haben wollte. Anstatt ein Land ins Chaos zu stürzen, verhinderten sie es. In ganz Deutschland entstanden Netzwerke von Menschen, die keiner theoretischen Ideologie folgten, keiner weltfremden Religion, keinem egoistischen Profitstreben, die nicht aus Langeweile handelten, sondern lediglich aus der Erkenntnis heraus, dass man Menschen in Not nicht alleine lässt. Statt auf politische Entscheidungen zu warten, haben sie eine persönliche getroffen.

Die sinnvollste Reaktion unserer Regierung wäre es jetzt gewesen, von Stadt zu Stadt zu reisen, um Erfahrungsberichte zu sammeln, Wünsche und Anregungen mit in die Hauptstadt zu nehmen, mit den Menschen zu reden, sie zu unterstützen. Das wäre nötig gewesen, wenn es um Menschlichkeit ginge. Stattdessen reden sie nur noch über Obergrenzen und deren Sicherung.
Wir müssen  uns entscheiden, auf welcher Seite wir stehen wollen, auf der Seite der Menschen, die unsere Zukunft aktiv gestalten wollen, oder auf der Seite des Geldes, die glaubt, dass man Zukunft kaufen kann.

Wir müssen uns entscheiden, ob wir weiterhin an den wirklichen Problemen unserer Zeit vorbeischauen wollen, wir uns weiterhin von Ängsten und Gegebenheiten leiten lassen wollen oder endlich anfangen, Visionen nicht mehr als Krankheit zu betrachten. „Mehr Demokratie wagen“ war einmal ein Leitspruch der SPD, zu einer Zeit, als sie Visionäre noch ins Parlament schickte, und nicht zum Arzt. Demokratie muss man wagen, sie erfordert Mut und Entschlossenheit. Demokratie bedarf vor allem der Möglichkeit gemeinsam diskutiert, entwickelt und gelebt zu werden.

Niemand erwartet von uns, dass wir fertige Lösungen für die Probleme unserer Zeit haben. Aber es ist durchaus unsere Aufgabe, vor Ort die Strukturen zu schaffen, innerhalb derer diese Lösungen erarbeitet werden können.
Es mag sein, dass dazu früher die parlamentarische Struktur gereicht hat, die sich vom Bund über die Länder in die Kommunen gliederte. Die Gründe dafür, dass sich das geändert hat, sind vielschichtig. Aber allein die immer stärker eingeschränkten Gestaltungsmöglichkeiten dieses Rates  zeigen deutlich, dass wir eine neue Beteiligungskultur benötigen. Wir müssen die Gestaltungsmöglichkeiten von interessierten Menschen deutlich erhöhen. Der Bürgerhaushalt war ein erster Ansatz. Doch er wirkte zu sehr wie ein Puppenhaus, ein Kaufmannsladen, in der man einmal Politik spielen darf, ohne Grundlegendes  verändern zu können.

Liebe Ratskolleginnen und Kollegen, jeder von uns weiß, dass in Düsseldorf und Berlin Entscheidungen getroffen werden, deren Grundlage für uns nicht mehr nachvollziehbar ist. Kommunen, die kaputtgespart werden, Verhandlungen, über Freihandelsabkommen, die selbst Parlamentariern nur erschwert zugänglich sind, oder Lothar de Maizières Erklärung, dass das Volk vor der Wahrheit mehr Angst haben müsse, als vor Anschlägen, sind für mich politische Obergrenzen. Demokratische Mitbestimmung sieht anders aus. Wir haben hier keinen Einfluss auf die Entwicklung der „Spitzenpolitik“. Wir haben nicht die Möglichkeit, den Regierungen mehr demokratische Teilhabe  vorzuschreiben. Aber wir können sie hier praktizieren. Wenn die Spitze eines Systems in immer schwindelerregendere Höhen davon wächst, muss man das Fundament verbreitern, wenn nicht das ganze Gebäude kippen soll. Wir müssen in die Tiefe wachsen, mehr an Einfluss und Kompetenzen nach „unten“ geben. Wir sollten nicht ängstlich an dem  bisschen Einfluss, der uns noch geblieben ist, festhalten, sondern ihn ausbauen, in dem wir ihn teilen. Wir sollten ab sofort in jedem Haushalt eine ernst zu nehmende Summe,  mindestens 1-5 % des Etats für direkte Demokratie einplanen.

Wir müssen in unserem Haushalt einen Sonderposten „gesellschaftliche Entwicklung einrichten, der das Ziel hat, Netzwerke und Initiativen zu fördern, von denen langfristig alle profitieren. Diese  Strukturen auszubauen, zu unterstützen und nicht ins Leere laufen zu lassen, sollte jetzt unsere wichtigste Aufgabe sein. Wir dürfen diejenigen, die uns bereits vorausgegangen sind, nicht ausbremsen. Im Gegenteil, wir müssen Anreize dafür schaffen, sich für ein Miteinander zu engagieren. Wenn Jugendliche auf einer Jugendkulturkonferenz wissen, dass ihnen garantiert auch ein Etat zur Verfügung steht, werden sie wesentlich motivierter an die Entwicklung von Projekten herangehen, als wenn im Hinterkopf die Erkenntnis steht, dass eh alles an der Finanzierung scheitern wird.

Ich würde diesen Fond zu Beginn gerne in drei Bereiche aufteilen:

1. Geld für Maßnahmen der Ehrenamtlichen im Bereich der Flüchtlingshilfe: Die wissen am ehesten, was kurzfristig zu tun ist, die müssen die Möglichkeit haben, es auch umzusetzen. Wir sollten vollstes Vertrauen haben, sie haben bewiesen, dass sie es verdient haben. Von den 3,1 Millionen, die wir erhalten, sollten wir 100.000 Euro hier investieren.

2. Work-Shops, Diskussionsrunden
Wir brauchen öffentliche Räume für mehr Diskussionen, mehr Experimente, mehr Begegnungen. Wir brauchen Work-Shops, in denen wir zusammen mit Industrie, Handwerk, Handel, Gewerbe, Schulen, Kirchen und Vereinen Kenntnisse und Fähigkeit erproben, vermitteln und gemeinsam erweitern. Es gibt Schulen, die dies ansatzweise für ihre Schülerschaft anbieten, es gibt Projekte, wo Flüchtlingen auf diese Weise Grundfertigkeiten vermittelt werden. Lasst uns dies für alle Interessierten aufbauen. Statt Spaltung durch Armut und Neid zu riskieren, sollten wir Solidarität durch gemeinsames Lernen und Erarbeiten fördern. Wir brauchen gemeinsame, zentrale Werk- und Übungsräume, Wir brauchen Möglichkeiten, um über gemeinsame Ziele nachzudenken. Wir brauchen Keimzellen für gesellschaftliche Entwicklungen. Lasst sie uns schaffen. Am Raum wird es nicht scheitern, Leerstände im Zentrum haben wir genug.

3. internationale Partnerschaften
Die Entscheidung der erfolgreichen Städtepartnerschaft Netphen – Zagan das Geld zu kürzen war ein großer Fehler. Vielmehr müssen wir solche Partnerschaften massiv ausbauen und finanziell fördern. Wir brauchen heutzutage mehr denn je ein Netzwerk internationaler Freundschaften. Wenn jede Kommune in Europa eine Partnerschaft mit einer Stadt in jedem anderen Land Europas (inkl. Russland) eingeht, wären wir einen großen Schritt weiter.
Die Idee eines gemeinsamen, friedlichen Europas droht zu scheitern. Wir sollten tun, was in unserer Macht steht, um dem entgegen zu wirken.

Ich weiß, dass wir hier und heute keinen Systemwechsel vollziehen werden, aber ich hoffe zumindest auf einen ersten Schritt. Wir müssen heute nicht die Details klären, wer, wie von einem solchen Fond gefördert wird, aber wir sollten ihn heute auf den Weg bringen, in dem wir das Geld dafür bereit stellen.