Abschiebung trotz Hängebeschluss

DIE LINKE. Ratsfraktion Siegen

Anfrage gemäß § 8 der GeschO des Rates der Stadt Siegen zur nächsten Sitzung des Rates am 25.09.2024

Abschiebung trotz Hängebeschluss

Im Dezember 2023 kam es aus der Zuständigkeit der ABH Siegen heraus zu einer Abschiebung eines 51-jährigen Kurden, der 2018 aus der Türkei geflohen ist.

Der 5-fache Vater hat in Siegen seit 4 Jahren Vollzeit als Stuckateur/Verputzer gearbeitet, war ein geschätzter Mitarbeiter und nicht von Sozialhilfe abhängig. Fluchtursache war seinerzeit, dass er sich in seiner Gemeinde im Süd-Osten der Türkei in einer Dorfkommission engagiert hat, die sich um Autonomie und Selbstbestimmung bemüht. Der Antragssteller nahm an regierungskritischen Demonstrationen der kurdischen Bewegung teil und wurde im Polizeigewahrsam misshandelt.

Der Asylantrag wurde 2018 abgelehnt, eine Klage gegen die Ablehnung 2021 abgelehnt. Das VG Arnsberg hat aber in einem Beschluss vom 12.12.23 festgestellt, dass ein Anspruch auf die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens, sog. Asylfolgeverfahren, glaubhaft gemacht wurde. Zu dieser Zeit war der Kurde jedoch schon rechtswidrig in die Türkei abgeschoben und hielt sich aus Angst vor staatlichen Repressionen an wechselnden Orten versteckt.

Ein Asylfolgeantrag ist dann zulässig, wenn neue Kenntnisse und Beweise hinsichtlich einer drohenden politischen Verfolgung hinzugetreten sind. Dieser Asylfolgeantrag wurde am 27.09.23 gestellt.

Am 01.12.23 teilte die ABH Siegen dem BAMF mit, dass für den 05.12.23 (13.55 Uhr) ein Flug gebucht sei und bat das BAMF um eine sog. Prognoseentscheidung gem. §71, Abs. 5 S.2 AsylG. Das BAMF antwortete erst, dass das in so kurzer Zeit nicht möglich sei, aber am 04.12.23 wurde die Prognoseentscheidung dann doch getroffen und der ABH mittgeteilt: die Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Asylfolgeantrags lägen nicht vor. Dies war jedoch eine falsche Einschätzung, wie sich später durch das VG Arnsberg herausstellt.

Die Anwältin und ihr Mandant wurden nicht über dieses Ergebnis informiert.

Am 05.12. 23 vormittags wurde der Kurde in seiner Wohnung von der Polizei mitgenommen. Es gab zuvor keine schriftliche Bekanntmachung des Termins. Daraufhin hat die Anwältin, die von den Verwandten informiert wurde, bei der ABH Siegen angerufen. Es wurde ein Rückruf besprochen, der auf sich warten ließ. Um 11.59 Uhr schickte sie dann eine Mail an die ABH, mit der Bitte um Rückmeldung. Der dann erfolgte Anruf offenbarte ihr, dass ihr Mandant auf dem Weg zum Flughafen Düsseldorf gebracht werden sollte und dass ein entsprechender Flieger zur Abschiebung nach Istanbul um 13.55.Uhr abfliegen sollte. Daraufhin sendete sie einen Eilantrag an das VG Arnsberg (Eingang 13.00 Uhr) mit dem Inhalt, dass BAMF zu verpflichten, bis zur schriftlichen Entscheidung über die Durchführung eines Asylverfahrens keine Abschiebemaßnahme durchzuführen und hilfsweise gegenüber der ABH Siegen festzustellen, dass keine Abschiebemaßnahmen bis zur abschließenden schriftlichen Entscheidung des BAMF durchgeführt werden dürfen (sog. Hängebeschluss).

Diesen Antrag sendete sie um 13.03 Uhr ebenfalls per E-Mail.

Um 13.29 Uhr hat das VG eine Mitarbeiterin des BAMFs erreicht, welche mitteilte, dass ab 14.00 in der ABH Siegen eine Weihnachtsfeier sei und diese Behörde zuständig sei.

Um 13.52 Uhr hat das VG die ABH erreicht und dem Mitarbeiter gesagt, dass eine „stattgebende Zwischenregelung“ ernstlich in Betracht käme und gefragt, ob die Behörde die Abschiebung freiwillig abbricht. Der Mitarbeiter wollte sich mit der ABH in Verbindung setzen und den Sachstand erfragen.

Aus einem weiteren Vermerk ergibt sich, dass derselbe Mitarbeiter in einem weiteren Telefonat die Übersendung von Unterlagen ankündigt, es aber Probleme mit dem Fax gäbe.

Um 14.10 Uhr ist der Flieger von Düsseldorf nach Istanbul gestartet.

Das VG hat dann den Hängebeschluss erlassen, mit dem Tenor, dass die Abschiebung nicht durchzuführen ist. Dies ist ca. 16.14 Uhr bei der Anwältin eingegangen, die dann um 16.40 Uhr den Beschluss an die ABH per Mail weiterleitete. Telefonisch war niemand bei der ABH zu erreichen. Durch einen Anruf beim VG hat die Anwältin die Nummer des vorher involvierten Mitarbeiters erhalten und diesen kontaktiert. Dieser antwortete nun, „die Sache sei bereits gelaufen“ und er sei nicht zuständig, sondern die ABH, wo er nicht wüsste, ob er noch jemanden erreiche. Daraufhin nahm die Anwältin selbst Kontakt zur Bundespolizei auf.

Um16.56 Uhr schickte die Anwältin den Eilbeschluss an die Bundespolizei weiter, jedoch war der Kurde entgegen der Weisung des OVG NRW vom 11.11.22 ohne polizeilich Begleitung im Flieger, somit ohne die Garantie, dass die Abschiebung bis zu ihrer Vollendung beendet werden kann, ggfls. auch noch im Flieger.

Am Flughafen wurde er von Polizisten in Empfang genommen, festgehalten und sein Pass ungültig gemacht.

Schlussendlich hat am 12.12.23 das VG Arnsberg entschieden, dass die Abschiebung nicht hätte durchgeführt werden dürfen und das Vorgehen rechtsstaatliche Zweifel aufkommen lassen. Die Abschiebung wurde entgegen

1. des Anrufs durch das VG und 2. trotz Erlasses des Hängebeschlusses vor Vollendung der Abschiebung durchgeführt. Der Antragssteller wurde ferner über die Prognoseentscheidung nicht in Kenntnis gesetzt, wodurch er gegen die Entscheidung keine effektiven Rechtsmittel einlegen konnte. Das steht im Widerspruch zu europarechtlichen Vorgaben in Bezug auf das Asylfolgeverfahren (Art. 42 Abs.3. der Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU).

 

Das Vorgehen der ABH Siegen wirft folgende Fragen für uns auf:

 

  1. Warum wurden die Anwältin und ihr Mandant nicht über das Ergebnis der Prognoseentscheidung vom BAMF am 04.12.24 durch die ABH Siegen informiert? Durch das Nicht-Handeln der ABH wurde dem Mann nicht die ihm rechtmäßig zustehende Gelegenheit gegeben, die Gründe hierfür zu erfahren und über mögliche Rechtsbehelfe gegen die Entscheidung belehrt zu werden (Art.42 Abs.3). Über den Wortlaut von § 71 Abs. 5 S. 2 AsylG hinausgehend, „dürfen Vollstreckungsmaßnahmen nach Art.42 Abs.3 VfRL unter Einhaltung der Rechtsmittel erst ergriffen werden, wenn die antragsstellende Person in geeigneter Weise über das negative Ergebnis des Zulässigkeitsverfahren, über die Gründe der Entscheidung sowie die entsprechenden Rechtsmittel informiert worden ist“ (Huber/Mantel 

AufenthG/Stern, 3. Aufl. 2021, AsylG § 71 Rn. 16). Wie kann zukünftig sichergestellt werden, dass Ausländer vollumfänglich zustehende Rechtsmittel erhalten?

  1. Wurde der Abschiebetermin dem Kurden schriftlich mittgeteilt? Wenn nein, warum nicht?
  2. Wieso war bei der ABH Siegen niemand zuständig/erreichbar, um die Abschiebung zu stoppen? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Untätigkeit und der angeführten Weihnachtsfeier? Wie können zukünftig solche Fehler unterbunden werden?
  3. Warum wurde konkret um 13.52 Uhr nichts unternommen, das die Abschiebung gestoppt hätte? Das Gericht hat dies nahegelegt und bis zum Abflug vergingen noch 18 Minuten.
  4. Wieso gab es keine polizeiliche Begleitung, welche die Abschiebung im Flieger noch hätte stoppen können? Wie will die ABH Siegen künftig sicherstellen, dass die Weisung des OVG NRW v. 11.11.22 umgesetzt wird, die besagt, dass die Abschiebung des Antragsstellers bis zu ihrer Vollendung beendet werden kann?
  5. Gemäß dem Rundschreiben des OVG NRWS vom 11.11.22 müssen Ausländerbehörden bei Flugzeugabschiebungen eine Garantieerklärung abgeben, dass die Abschiebung bis zum vollständigen Vollzug beendet werden kann. Wieso wurde das hier nicht eingehalten?
  6. Wieso wurde schon vor dem Erhalt einer Prognoseentscheidung ein Abschiebeflug für den Antragsteller gebucht?
  7. Wie bestimmt sich die Reihenfolge von Abschiebungen ausreisepflichtiger Personen im Zuständigkeitsbereich der ABH Siegen?

 

 

           gez. Melanie Becker (Fraktionsgeschäftsführerin)